Christiane Seiler im Gespräch mit Terry Reintke, MdEP über rechtspopulistische und antifeministische Entwicklungen auf europäischer Ebene und in der EU.
Vor kurzem war equal pay day - er benennt eine der vielen Baustellen in der Frauen- und Gleichstellungspolitik. Was treibt Ihnen denn, wenn Sie an Frauenpolitik denken, im Augenblick besonders die Galle hoch?
Mich bewegt vor allem die Debatte über die Istanbul Konvention. Darin bündeln sich die zentralen Auseinandersetzungen, denen wir uns gegenwärtig beim Thema Gleichstellung gegenübersehen. Zum Beispiel das Thema finanzielle Abhängigkeit von Frauen: Warum harren so viele Frauen in gewaltvollen Beziehungen aus? Das liegt oftmals daran, dass sie abhängig sind von ihrem Partner und das wiederum liegt daran, dass Frauen so oft immer noch viel zu wenig verdienen. Hieran könnte die Istanbul-Konvention ganz konkret etwas ändern. Aber die politisch Verantwortlichen ziehen sich aus der Affäre.
Gleichzeitig erleben wir überall - in allen EU Mitgliedsstaaten - einen massiven Angriff auf die Rechte von Frauen verbunden mit dem Thema sexuelle und reproduktive Rechte und Zugang zur Abtreibung. Das alles kondensierte in der gegenwärtigen Debatte um die Istanbul-Konvention. Es werden gezielt Fehlinformationen gestreut, wir sehen uns einer massiven Mobilisierung von Neokonservativen und Rechtspopulist*innen gegenüber. Gleichzeitig, lassen sich die Volksparteien so stark von diesen Kampagnen verunsichern, dass politische Verantwortung nicht wahrgenommen wird. Die Strategie lautet „Abwarten und Aussitzen“. Genau das ist aber falsch.
Die Istanbul-Konvention, in der es um die Verhütung von Gewalt gegen Frauen geht, ist ja ein Übereinkommen des Europarats, geht also über die EU hinaus. Einige EU-Mitgliedsstaaten haben sie nicht ratifiziert. Woran liegt dieser Misserfolg?
Zum Teil an einer großen von Kirchen, von Rechtsextremen, von Fundamentalisten organisierten Kampagne, in einigen Mitgliedstaaten sind es richtige Hasskampagnen. In Bulgarien hat die Regierung die Istanbul-Konventionen durch den Obersten Gerichtshof als verfassungswidrig erklären lassen. Das ist Teil des Backlashs gegenüber Frauenrechten, den wir gerade in ganz Europa wahrnehmen, auf nationaler Ebene aber eben auch sehr stark auf europäischer Ebene. Die Betreiber dieser Kampagne nutzen die europäischen Institutionen und Vernetzungsmöglichkeiten sehr dezidiert, um sich besser aufzustellen und schlagkräftiger zu werden.
Können Sie einige Hauptargumente der Gegner*innen nennen?
Das Grundnarrativ, was sich durch alle diese Debatten zieht, auch die um die Istanbul-Konvention ist: die Feminist*innen wollen die Familie kaputt machen, es soll keine klassische heterosexuelle Familie, Vater, Mutter und Kinder mehr geben, sondern, alle sollen alleinerziehend sein und in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften leben. Da werden die absurdesten Zukunftsvisionen gestreut: die bösen, elitären, liberalen Feminist*innen aus den Großstädten wollen uns jetzt verbieten, dass wir in unseren traditionellen Familien leben. Das verbindet mittlerweile politische Kräfte, die noch vor 10, 15 Jahren nicht so eng miteinander zusammengearbeitet hätten. In einigen Ländern ist da die katholische Kirche sehr stark, aber auch evangelikale Gruppierungen, da sind rechtspopulistische, rechtsnationalistische Player mit drin, aber auch echte Rechtsextreme. Die nutzen dieses Narrativ des Gender-Gaga, das die Familie kaputt machen soll, um dann gemeinsam gegen progressive Gesetzgebung oder gegen Gesetzgebung, die sich gegen Gewalt gegen Frauen richtet, vorzugehen.
Wenn wir uns die besorgniserregenden Entwicklungen in Ungarn und Polen ansehen, könnte der Eindruck entstehen, diese Meinungsmache spiele sich vor allem in östlichen Mitgliedsstaaten ab. Stimmt dieser Eindruck?
Keineswegs, wir sehen in Frankreich diese große Mobilisierung gegen die gleichgeschlechtliche Ehe, gegen die sich wiederum wahnsinnig viel Opposition formiert hat. Wir sehen die CitizenGo Bewegung in Spanien, die immer wieder versucht, direkte demokratische Instrumente zu nutzen, um Stimmung zu machen gegen Grundrechte. Wir sehen, wie in Deutschland die Bewegung gegen Abtreibungskliniken an Fahrt aufnimmt, und sie alle bekommen nicht nur aus dem klassischen Spektrum älterer christlicher Menschen auf dem Land ihre Zustimmung, sondern versuchen über soziale Medien neue Zielgruppen zu erreichen. Der Erfolg hängt meist sehr stark davon ab, ob es eine zivilgesellschaftliche Gegenwehr gibt, gemeinsam mit Parteien und anderen progressiven Kräften, oder ob man das eben so geschehen lässt. Meine These ist, dass wir das viel zu lange haben geschehen lassen ohne uns ausreichend laut zur Wehr zu setzen.
Haben Feminist*innen, Grüne und andere progressive Kräfte da einen Trend verschlafen?
Wir haben es sicher unterschätzt, weil wir dachten, wir bewegen uns auf einer progressiven Welle, aber spätestens mit der „one of us“ Initiative der Abtreibungsgegner wurde klar: nichts ist in Stein gemeißelt, wir müssen dafür kämpfen, dass rückwärtsgewandte Kräfte nicht die Überhand gewinnen. Wir sollten wieder in die Offensive kommen und sagen: wir wollen in einer gleichberechtigten Gesellschaft leben, in der alle Menschen die gleichen Rechte haben. Ich glaube, in dieser Auseinandersetzung geht es um mehr als nur die Rechte von Frauen. Es geht darum unsere Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zu verteidigen.
Sie haben eben gesagt, die im Kern ja antieuropäischen Akteure dieser antifeministischen Kampagnen vernetzen sich in der EU. Wie funktioniert das?
Das sind teilweise Organisationen, Schein-NGOs, die von einem eher geringen Personenkreis getragen werden. Häufig steckt viel Geld dahinter, zum Teil aus den USA, zum Teil von russischen Oligarchen. Sie nennen sich dann zum Beispiel Alliance for freedom and democracy, sie bedienen sich einer Menschenrechtssprache, zum Beispiel wird immer wieder gesagt, der Schutz des ungeborenen Lebens sei ein Menschenrecht. Sie haben das EU-Parlament zur Vernetzung benutzt, Konferenzen abgehalten auf Einladung von EU-Abgeordneten, und darüber haben sich Verbindungen etabliert. Zum Beispiel gab es diesen Vorschlag von Ordo Juris, einer katholischen NGO, die in Polen ein absolutes Abtreibungsverbot vorgeschlagen hat, unterstützt von der Regierungspartei PIS. Die Initiative wurde durch die Black Friday Proteste gestoppt. Wenige Monate darauf tauchte in Litauen eine ganz ähnliche Gesetzesinitiative auf. Angepasst an die dortigen Verhältnisse wurde versucht, eine ganz klar gegen sexuelle Selbstbestimmung gerichtete Gesetzgebung parlamentarisch durchzusetzen. Da konnte man, finde ich, ganz genau nachvollziehen: die kannten sich, die haben voneinander gelernt und die haben erfolgreiche Initiativen und Aktionsformen aus anderen EU Ländern genutzt. Antifeministische Gruppen in der EU verfolgen gemeinsame Ziele, und nicht nur in Ungarn und Polen sondern auch in Italien und in anderen EU Mitgliedsstaaten haben sie Zugang zu höchsten Regierungskreisen, und das merken wir auch in der Arbeit im EU-Parlament.
Wenn die reproduktive und sexuelle Autonomie von Frauen eingeschränkt werden soll, sind damit oft rassistische Motive verbunden. Was beobachten Sie dazu im Umfeld des EU-Parlaments?
Daher rühren diese Versuche ein restriktiveres Abtreibungsrecht einzuführen, den Zugang zu Verhütungsmitteln zu verhindern, den Sexualkundeunterricht zumindest einzuschränken, wenn nicht abzuschaffen. Das alles damit die weißen Europäer*innen wieder mehr Kinder produzieren. In Ungarn kann man diese Verbindung von sexistischen und rassistischen Diskursen gut beobachten. Dort wird es Frauen immer mehr erschwert, Zugang zu Abtreibungen zu haben, außer bei den Roma-Frauen. Wenn die zum Arzt gehen und sagen ich möchte abtreiben, dann geht das ganz einfach. Die Idee ist aber auch: wenn weiße Frauen weiße Kinder bekommen sollen, müssen wir auch deren Rechte einschränken: reproduktive Rechte aber auch den Zugang zum Arbeitsmarkt, Zugang zur Kinderbetreuung.
Arbeit und Kinderbetreuung, wie steht es denn um die EU-Agenda zur Gleichstellung von Männern und Frauen? Bremsen da dieselben Akteure?
Auch in der Debatte um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Freizeit und Beruf wird immer wieder das Gespenst aufgebaut: die EU will den Mitgliedsstaaten vorschreiben, wie sie bestimmte Dinge regeln sollen. Die Bundesregierung spielt keine sehr glorreiche Rolle in dieser Diskussion. Deutschland ist kein Vorreiter-Mitgliedsstaat, was Gleichstellung angeht, sondern vertritt immer wieder eine klar konservative Linie. Es muss klar sein, dass es aber auch diese zum Teil sehr indifferente Haltung ist, die verhindert, dass es vorangeht.
Wie gehen Sie als Abgeordnete der Grünen im EU-Parlament mit solchen Debatten um? Was ist Ihre Strategie?
Für mich stehen zwei Punkte im Zentrum: erstens dürfen wir nicht zulassen, dass Rechtspopulist*innen -und extremist*innen die politische Agenda bestimmen, zweitens müssen wir klar und deutlich unsere Positionen verteidigen. Viel zu häufig arbeiten wir uns tagelang an einzelnen Statements, Vorstößen, Reden ab und lassen zu, dass sie die politischen Debatten dominieren. Mir geht es nicht darum, rechtsextreme Akteure zu ignorieren, aber wir dürfen ihnen nicht die Bühne überlassen.
Außerdem sollten wir unsere Positionen uneingeschränkt nach vorne stellen. Gerade bei den Volksparteien beobachten wir, dass Positionen nach rechts verschoben werden, Dinge vorsichtiger formuliert und Debatten vermieden werden. Das halte ich für genau den falschen Weg.